Lebensstile und ihre Orte – Die Chancen der Ortsgemeinde in einer pluralen Kirchenlandschaft

Herbert Lindner

Überarbeitete Fassung des Referats auf dem 7. Gemeindepädagogischen Symposion –vom 7.- 9.4.2005 in Würzburg

Die Milieudiskussion hat die Frage nach dem Umgang mit der Pluralität in evangelischen Kirchen neu und verschärft gestellt. Auch wenn es in vielen Köpfen vieler Verantwortlicher immer noch handlungsleitende Bedeutung besitzt – das „Zwiebelschalenmodell“ von gehaltvollem Kern und abblätterndem Rand entspricht weder den täglichen Erfahrungen der Gemeindepraxis noch den Untersuchungsergebnissen der Kirchensoziologie.

Die nun schon seit vielen Jahren empirisch aufweisbaren unterschiedlichen Bindungslogiken im Raum evangelischer Kirchen haben durch den Einbezug des Milieuansatzes in der neuen Kirchenmitgliedschaftsstudie eine weitere Bestätigung erfahren. Es gibt neben der vertrauten „Heimat Gemeinde“ eben auch die „Heimat im Hintergrund“, Glauben als lebensprägende Kraft und als Horizont und Lebensrahmen. Wie auch immer die Bezeichnungen lauten, sie weisen in ähnliche Richtungen. „Versammelte Gemeinden“ nach dem Vereinsmodell, „Familienreligion“ mit einer stark individuell-biografischen Komponente, eine „protestantische Auswahlreligion“ mit ihren kulturellen Bezügen stehen neben einander. Sie haben eine je eigene Affinität zu ausdifferenzierten Lebensstilen. Es lässt sich festhalten: Evangelischer Glaube nimmt im Kontext unterschiedlicher Lebensstile unterschiedliche Gestalten an.

Eines ist sicher: sie können nicht aufeinander reduziert werden. Sie sind und bleiben eigenständige Glaubensformen, die je für sich eine theologische Würdigung verdienen. Dann muss aber die Frage nach der Vielfalt gestellt und beantwortet werden. Wenn die verschiedenen Glaubensformen miteinander in eine „konziliare“ Beziehung gesetzt werden, erweitern sie die Lebens- und Glaubensmöglichkeiten von Einzelnen, provozieren Klärungen und entfalten Reifungsimpulse. Sie erweitern auch das Spektrum einer evangelischen Kirche. Die Vielfalt kann dann als Reichtum verstanden werden.

Um diesen Reichtum zu erschließen und zu entfalten, ist es nötig, aus der eher defensiven Haltung des Erduldens der Vielfalt in eine aktive Kommunikation überzugehen. Sie beginnt mit der Wertschätzung der Glaubensbiografie des Gegenübers, sucht deren Stärken zu verstehen und deren Schwächen zu überwinden.

Die religiöse Sozialisation ist hier der Schlüssel. Ihre Aufgabe ist es, zu zeigen, wie aus dem gemeinsamen Glaubensgrund legitimerweise verschiedene Lebensentwürfe entstehen, die in sich stimmige Gestalten annehmen und als Vor-Bilder dienen können.

Glaubensstile als Korrelate zu Lebensstilen unterscheiden sich durch ihre Raumpräferenzen und Zeitebenen. Die sich nach dem Vereinsmodell versammelnde Gemeinde, die vielfach als die erstrebenswerte „lebendige Gemeinde“ gilt, erreicht mehrheitlich nur ein Milieuspektrum unter vielen. Die Folgerung erscheint deshalb logisch, aus Sorge um die nicht eingeschränkte Auftragserfüllung neben der Ortsgemeinde andere Formen von Gemeindebildung anzubieten, die diese Enge aufbrechen und alternative Kristallisationspunkte bilden.

Dies wird nötig sein. Theologisch sind nicht-lokale Gemeindebildungen sehr wohl begründbar. Aber die entscheidende Frage ist gerade in Zeiten knapper Mittel die nach den Größenordnungen und nach den Prioritäten. Soll die theologische Gleichwertigkeit der verschiedenen Formen der Gemeindebildung zu einer gleichmäßigen Verteilung der Ressourcen führen oder soll sich das Verhältnis nach dem Muster von allgemein zugänglicher Grundversorgung und spezialisierten Schwerpunktangeboten entwickeln? Theologische Grundsatzklärung und mittelfristige Strategieentscheidungen müssen sorgfältig unterschieden werden, um die richtigen Weichen zu stellen.

Das Dilemma ist nicht gering. Eine sich immer weiter ausdifferenzierende Gesellschaft drängt die Kirche zu einer entsprechenden Binnendifferenzierung. Nun stehen wir aber offenkundig am Ende einer Phase einer institutionell verfestigten Vielfalt evangelischer Kirchen, die spätestens seit den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts durch die reichlich strömenden Finanzmittel ermöglicht wurde. Knappe Mittel fordern Konzentration ohne Einflächigkeit. In dieser Perspektive hat die lokale Gemeinde auch im Blick auf die Lebensstildifferenzierung noch nicht ausgeschöpfte Chancen. Ortsgemeinden sind mehr als das vereinsförmige „Gemeindehausleben“. Milieusensible Ansätze müssen deshalb nicht zwangsläufig weg von der lokalen Gemeinde führen.

Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die lokale Gemeinde auch angesichts der Lebensstildifferenzierungen nicht nur nach Quantität sondern auch nach der Qualität ihrer Kontakte bestehen kann.

  • Die Kenntnis der Lebensstile muss dazu führen, alles zu vermeiden, was als Ausschluss verstanden werden kann. Hier sind besonders ästhetische Fragen (Musik, Kleidung, …) zu beachten. Wichtig ist auch, die oftmals einseitige Milieuprägungen der „Kerngemeinde“ nicht für den Normalfall des Christseins zu halten und dadurch automatisch Gemeindeglieder anderer Lebensstilgruppen abzuwerten.
  • Wenn Trennendes vermieden wird, besteht die nächste Bedingung darin, Übergreifendes zu suchen. Die Zahlen der KMS IV, zeigen eindeutig, dass bei den Festen des Kirchenjahrs und bei persönlichen Anlässen die Unterschiede zurücktreten. Zumindest erreichen diese Angebote lokaler Kirchen die meisten Mitglieder sonst kirchenferner Lebensstile. Dies gilt sogar für das eindeutig als nicht-religiös und kirchenfern positionierte jugendkulturelle Milieu. Die Zahlen dieser „klassischen“ Angebote liegen deutlich höher als die Reichweite spezieller Veranstaltungen.

Damit ergeben sich für die örtlichen Gemeinden weitreichende Optionen. In ihren regelhaften Angeboten können sie nur zwei Lebensstile ansprechen. In der Terminologie der KMS IV sind dies der hochkulturell und sozial integrative Lebensstil und der gesellige und nachbarschaftsbezogene Lebensstil[1].

In der Begleitung der Lebensübergänge und des Jahreskreises vermögen sie jedoch nahezu alle Lebensstile zu erreichen. Wenn sie ihre Arbeit darauf konzentrieren, gewinnen sie den Raum, sich innerhalb dieses Ansatzes den Lebensstilen verstehend zu nähern. Die „klassischen“ Konflikte über Stilfragen bei Amtshandlungen und bei der Festtagsgestaltung lassen sich weitgehend als Milieudifferenzen interpretieren. Anstatt sie zu bekämpfen, sollten sie als wertvolle Indikatoren für lebensstil-adäquate Kasualgestaltungen genutzt werden. Der Festkreis des Jahres bietet auf Grund seiner kulturellen Verankerung ohnehin ein reiches Material für milieugerechte Angebote[2].

Diese Vorgehensweise hat noch einen weiteren Vorteil. Sie kann die Beobachtung nutzen, dass im Bereich mittlerer bis schwacher Kirchennähe und Religiosität („etwas religiös und etwas kirchennah“ mit etwa 42 % der Befragten[3]) die Angehörigen aller Lebensstile nahezu gleich häufig vertreten sind, dieser Bereich also nicht von vorneherein durch Voreinstellungen geprägt ist. Eine an der Lebenszeit orientierte Gemeindekonzeption kann hier auf Resonanz rechnen, die durch Lebensstilprägungen nicht von vorneherein eingeschränkt ist.

Auf die ganze Palette der Lebensstile kann keine örtliche Gemeinde mit spezifischen Angeboten eingehen. Dazu fehlt die Kraft und die Glaubwürdigkeit. Regionale Absprachen können Schwerpunktbildungen unterstützen, die an lokale oder personale Präferenzen anknüpfen.

Die Chancen lokaler Gemeinden werden sich allerdings nicht von alleine einstellen. Sie müssen gezielt erkannt und genutzt werden. Dies bedeutet eine Verlagerung von Ressourcen an Zeit und Geld. Milieufragen sind auch Machtfragen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die in den Ortsgemeinden dauerhaft präsenten und ihre Gremien bestimmenden Milieus dieser Verlagerung in vielen Fällen zunächst eher skeptisch gegenüber stehen und gesamtkirchliche Chancen damit ungenutzt bleiben.

Am weitesten in das bisherige Leben von Ortsgemeinden wird die notwendige Veränderung der religiösen Sozialisation und hier vor allem der Konfirmandenarbeit eingreifen. Das wohnortnahe Umfeld hat die Aufgabe der lebensstil-profilierten, aber nicht fixierten religiösen Sozialisation. Ihr werden die Ortsgemeinden im Augenblick nicht ausreichend gerecht. Neben ermutigenden Ansätzen einer jugendgemäßen „religiösen Erlebnispädagogik“ stehen leider immer noch unsensible Anpassungsphantasien, die ganze Jahrgänge in unveränderte Sonntagsgottesdienste zwingen, was nur eine tiefe gegenseitige und leider relativ dauerhafte Abneigung zur Folge haben kann.

Es bleibt die Frage nach der spezifischen Begleitung ortsgemeinde-ferner Lebensstile. Eine strategische Option könnte die Entwicklung eines Netzes von flexiblen Formen mit Eventcharakter (z.B. Kongresse, Kirchentage, …) mit regionaler oder bundesweiter Reichweite sein. Sie könnte die Bandbreite der Lebensstile und deren wechselnde Präferenzen eher erreichen als institutionelle Verfestigungen. Allerdings bedürfte es stabiler Kerne, die für die jeweiligen Lebensstile personell und finanziell „kampagnenfähig“ sind. Sensibilisiert durch die Topografie der Lebensstile könnten solche Kernteams in Regionen und Landeskirchen Identifikationsmöglichkeiten und Treffpunkte durch Leitveranstaltungen (oder auch durch zielgruppenspezifische Medien) entwickeln.


[1] Vgl. Vorwegveröffentlichung S.62 und 65.

[2] Näheres vgl. Herbert Lindner, Kirche am Ort, Stuttgart 2000, S. 177-238.

[3] vgl. Vorveröff S. 65.